Lily
…und dass es am Ende auch keine andere gibt, die mich so vollendet. Die mich so bewegt.
(Philipp Poisel - Ich will nur)
„Eure Tochter ist schwerstbehindert und wahrscheinlich nicht lebensfähig.“
Dieser Satz meines Gynäkologen zieht mir am 9. Oktober 2013 – in der 32. Schwangerschaftswoche – den Boden unter den Füßen weg. Von einem Moment auf den anderen steht mein Leben Kopf. Auf so eine Diagnose war ich nicht vorbereitet. Wie auch? Bis hierhin schien alles perfekt zu laufen.
Es folgen acht lange, intensive und zutiefst emotionale Wochen:
Zwischen der Frage nach dem „Warum“ und dem „Ja“ zu Lily, zwischen der Realität, dass dieses kleine Wesen, das in meinem Bauch lebendig strampelt, dem Tod näher ist als dem Leben – und der Vorbereitung auf eine ungewisse Zukunft.
Ich entwickle meine ganz eigene Überlebensstrategie: das Wegbeamen.
Es wird mein Schutzraum – eine andere Welt, in der ich mit meiner Tochter bin. Je öfter ich dorthin flüchte, desto mehr beginne ich, das Außen in Frage zu stellen. Je näher wir dem Geburtstermin kommen, desto mehr ziehe ich mich zurück und erschaffe mir meine eigene Wahrheit.
Ich spreche mit Lily über ihre Stärke und ihren Lebenswillen. Ich vertraue auf sie. Ich glaube daran, dass vielleicht doch alles gut wird.
Das Wegbeamen wird zu meinem Schutzschild in diesen letzten Wochen der Schwangerschaft.
Am 2. Dezember 2013 kommt Lily zur Welt.
28 Stunden kämpft sie um ihr Leben – bevor sie ihre Reise zu den Sternen antritt.
Es sind 28 Stunden, die mir zeigen, dass ihr kleiner Körper zu krank ist, um hier zu bleiben.
Aber es sind auch 28 Stunden voller Liebe, Vertrauen und tiefem Frieden.
Lily hat mir das größte Geschenk gemacht: die Möglichkeit, sie kennenzulernen.
Nach Lilys Tod musste ich lernen, mit meiner Trauer zu leben – in einer Welt, in der diese Art von Schmerz oft tabuisiert wird. Ich habe professionelle Hilfe angenommen, unzählige Bücher gelesen, mich in die Musik zurückgezogen, bin durch kreative Phasen gewandert und habe meinen Glauben neu entdeckt.
Meine Trauer hat mich neugierig gemacht. Ich habe angefangen zu spüren, dass ich meinem Weg vertrauen darf – auf meine Weise. Alles hat einen Sinn. Und dieser Sinn muss nur für mich stimmen.
Aus Neugier wurde Sehnsucht nach Wissen – und aus dieser Sehnsucht entstanden Ausbildungen, Weiterbildungen, ein neuer Lebensweg.
Heute stehe ich mit einem Rucksack voller Know-how, Ideen und Impulse mitten im Leben.
An meiner Hand: Maurice, Lilys kleiner Bruder, der unglaublich viel Liebe zu verschenken hat.
In meinem Herzen: Lily, die mir Tag für Tag zeigt, wie schön das Leben sein kann – trotz allem. Vielleicht gerade deswegen.